2009 – Ausbildung und Arbeit für Straffällige

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Chance zur Reintegration

02. Juli 2009
Mehr als 50 Teilnehmer aus 8 europäischen Nationen fanden sich im Tagungszentrum der Generaldirektion des Justizvollzugsdienstes der Tschechischen Republik mitten in Prag zur jährlichen Tagung des Forums zusammen.

Traditionell waren dies Ehrenamtliche und Hauptamtliche aus dem Bereich der Straffälligenhilfe, Leiterinnen und Leiter von JVA, Pädagogen, Theologen, Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte. Hervorzuheben ist die Teilnahme einer Gruppe von Studentinnen und Studenten der Dualen Hochschule Baden-Württemberg mit dem Schwerpunktstudium „Soziale Arbeit in der Justiz“ mit ihrem Professor Dr. Günter Rieger.

Die Tagung begann mit einer Vorstellung der Teilnehmer.

03. Juli 2009
Pünktlich um 09.00 Uhr eröffnete der Vorsitzende des Forums, Wolfgang Krell, den Sitzungstag.
Er konnte den stellvertretenden Leiter der Generaldirektion des Justizvollzugsdienstes der Tschechischen Republik, Leutnant Petr Dohnal, begrüßen. In seiner Begrüßungsrede hob Leutnant Dohnal die Vielfalt und das fachliche Knowhow der Tagungsteilnehmer hervor.
Nach einem kurzen Überblick über die jüngste Geschichte des tschechischen Justizvollzugs sprach er die aktuelle Lage der Beschäftigung tschechischer Strafgefangener an. Er hob hervor, dass die Arbeit sowie die Ausbildung als wesentlich für die Reintegration in die Gesellschaft verstanden und somit auch entsprechend unterstützt wird.

Das erste Impulsreferat hielt Dr. Bernd Steinmetz von der Katholischen Akademie Trier mit dem Titel „Mehr als ein Rädchen im Getriebe des Alltags – Arbeit und Bildung als Schlüssel des Sozialen“.
Dr. Steinmetz entführte uns auf eine Reise in die Welt der Arbeit. Er begann mit einem Zitat von Erich Fromm: „Wenn das Leben keine Vision hat, nach der man strebt, nach der man sich sehnt und die man verwirklichen möchte, dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen“. Die Arbeit gehört zum Kern menschlicher Existenz. Das Fehlen von Arbeit führt in aller Regel zu Verzweiflung und in Teilen zu Gewalt.
Der Referent führte über die europäische Geschichte der Arbeit in das Thema ein. Der Wandel ist an den jeweiligen Epochen abzulesen. Als Beispiel sei die Ökonomisierung der Arbeit genannt, die sich im Datum des Wirtschaftswachstums niederschlägt. Der Referent wies darauf hin, dass dies zu kurz greift und den Bereich des Ehrenamts und andere Tätigkeiten jenseits der Ökonomie ausgrenzt. Er setzt den moralisierenden Begriff von Arbeit dagegen. Auf dem Weg in die Zukunft der Arbeit ging er auf das Problem der Beschäftigung über das Wirtschaftswachstum ein. Heute geht es zunehmend um strukturelle Arbeitslosigkeit, die sich über Produktivität nicht beseitigen lässt – im Gegenteil – sogar durch Rationalisierung verstärkt wird.
Deutliche Bezüge zur sozialen Situation vieler Menschen liegen nahe. Er ging auch auf den Beruf als soziale Verortung und Raum für Sozialkontakte ein. Der Beruf wirkt insofern innen- und außenstabilisierend für das Individuum. Die Erosion des Berufs wirkt sozial destabilisierend. Erwerbstätigkeit ist die Nr. 1 der Sinnstiftung von Menschen. Der Referent setzte sich mit der Frage auseinander, wie ein neues Arbeitsverständnis aussehen kann. Die Zukunft von Arbeit muss erobert werden. An Stelle von Sicherheit tritt mehr Flexibilität in den Vordergrund.
Vor allem im Bereich des so genannten „dritten Sektors“ der Arbeit – neben Markt und Regierung ist dies die Gemeinschaft – liegen Chancen in der Zukunft. Dies setzt einen Wechsel von der Kapitallogik zur soziokulturellen Logik voraus. Er wies auf der Grundlage bisheriger Konjunkturwellen (Kondratieff) auf die Chance eines neuen Sozialpaktes zwischen Arbeit und Bildung hin. Seiner Ansicht nach werden Bildung und Gesundheit die nächste Konjunkturwelle in der Arbeitsgeschichte darstellen. Um daraus eine wirtschaftliche Kraft zu entwickeln, braucht es eine gute Bildung. Anschließend ging er mit mehreren Thesen auf die Erwartungen an eine gute Bildung und neue Kompetenzen ein. Zum Schluss stellte der Referent noch methodische Überlegungen speziell zu Arbeit und Bildung im Strafvollzug an.

Das zweite Referat des Vormittags hielt der Leiter der Kantonalen Strafanstalt Saxeriett in der Schweiz, Martin Vinzens, zu dem Thema „Straffällige fit machen für den freien Arbeitsmarkt“. Zunächst führte er in humorvoller Weise in die Rahmenbedingungen der heutigen Schweiz und ihr spezielles Verhältnis zu anderen Ländern mit Zahlen, Daten und Fakten ein.
Ernster ging er dann auf den Strafvollzug in der Schweiz ein. Hier nannte er Kennzahlen zu Kriminalität und Freiheitsentzug in den Kantonen, mit einer Gefängnispopulation von 5780 Personen und einer Gefangenenzahl von 77 Gefangenen pro 100 000 Einwohner liegt die Schweiz unterhalb des europäischen Werts von 90. Auffallend ist der Anteil der Ausländer von 69,7 % der Inhaftierten. Dies stellt ein besonderes Problem dar. Das Thema Arbeit für Straffällige kann nur im Rahmen einer Gesamtkonzeption betrachtet werden. Er erläutert daraufhin die strategischen Ziele des Strafvollzugs in der Schweiz. Dazu gehören neben der sicheren Unterbringung auch wirksame Arbeits-, Betreuungs- und Interventionsangebote.
Der Gefangene in der Schweiz ist zur Arbeit verpflichtet. Speziell in Saxeriett gibt es ein differenziertes Arbeitsangebot in Industrie- und Gewerbebetrieben und in der Landwirtschaft. Die Arbeit unterstützt vor allem die Wiedereingliederung in die Gesellschaft durch Vermittlung entsprechender Kenntnisse und Arbeitsverhaltens.
Einen speziellen Wert hat für ihn die Landwirtschaft, weil über die Natur und den Umgang mit Tieren besondere soziale Fähigkeiten gefördert werden. Das Konzept von Saxeriett basiert auf dem Nutzen für den Insassen und die Wiedereingliederung, ohne Sachzwänge sowie der Umsetzung nach wirtschaftlichen und ökologischen Grundsätzen.
Die Umsetzung erläutert er anhand eines Prozessmodells in 8 Stufen. Arbeit, Aus- und Weiterbildung stellen eine Prozessstufe dar, auf die er intensiver einging. Zum Schluss ging er auf die positiven Wirkungen einer gelungenen „Wiederintegration“ für die Gesellschaft und den Gefangenen ein. Für ihn gibt es keine Alternative zum Resozialisierungsvollzug. Ein erfolgreicher Strafvollzug muss sich seiner Ansicht nach heute als Unternehmen verstehen. Ganz nach dem Motto: „Saxeriett – wir strafen für sie!“

Die anschließende Diskussion zeigte, dass das Konzept von Saxeriett auf großes Interesse stößt.

Nachmittags besichtigte das Seminar das Frauengefängnis Repy im Kloster Karl Borromäus. Das Besondere an dieser Einrichtung ist eine Kooperation mit einem Seniorenpflegeheim des Ordens der Barmherzigen Schwestern von Karl Borromäus. In dieser Einrichtung finden sich „Vier Welten unter einem Dach!“ Das sind die

  • Welt alter und kranker Menschen
  • Welt der Ordensschwestern
  • Welt der zivilen Angestellten
  • Welt verurteilter Frauen.

Während des Kommunismus wurde diese Zusammenarbeit eingestellt und nach der Wende wieder aufgenommen. In der Einrichtung arbeiten inhaftierte Frauen mit bei der Pflege von Senioren.

04. Juli 2009
Länderberichte

An diesem Tag berichteten verschiedene Kolleg/innen aus europäischen Ländern über ihre Aktivitäten in Bezug auf Ausbildung und Beschäftigung in den Justizvollzugsanstalten ihrer Länder:
Mit der Frage „Immer noch Tüten kleben? – Ausbildung und Arbeit für Straffällige in Tschechien“ stieg Vaclav Jiricka in seinem Vortrag über die Tschechische Republik ein.
Tüten kleben gibt es nicht mehr als Beschäftigung für Gefangene – es ist auch keine marktfähige Arbeit mehr, da dies inzwischen von Maschinen übernommen wird.
In der Tschechischen Republik ist gesetzlich festgelegt, dass jeder Strafgefangene zur Arbeit verpflichtet ist, er wird für die Arbeit entlohnt. Das Angebot der Arbeit wird entweder im Gefängnis selbst organisiert oder gemeinsam mit freien Unternehmen. Die Beschäftigungsquote liegt derzeit bei fast 60 % – als beschäftigt gilt dabei auch, wer an einer (arbeits-)therapeutischen Maßnahme (bei mindestens 21 Std./Woche) teilnimmt.
In seinem Ausblick ging Vacla Jiricka ein auf vier problematische Bereiche: es gibt eigentlich keine Arbeit für Untersuchungsgefangene, die Vorschriften machen es schwierig – wogegen es bei den Untersuchungsgefangenen großes Interesse an einer Beschäftigung geben würde.
Durch ein neues Gesetz können nach entsprechender Praxis und einer Prüfung inzwischen „Teilkompetenzen“ mit einem staatlichen Zeugnis bestätigt werden – eine wichtige Neuerung für die Zielgruppe der Straffälligen.
Schwierig bleibt es mit einer Vorstrafe Arbeit zu finden, es gibt aber auch ermutigende Beispiele wie z.B. das Autowerk Skoda, die ganz bewusst in ihren Stellenanzeigen auch Vorbestrafte einbeziehen. Eigentliches Ziel wäre es, im Übergang sechs Monate vor der Entlassung auch eine Beschäftigung „draußen“ zu erreichen, die danach beibehalten werden kann.

Einen Einblick in die Situation in Belgien gab Christian Panier (Richter am Landgericht in Namur und Dozent an der Universität Louvain-La-Neuve). Belgien sei ein etwas „bizarres“ Land – als Staat und Gesellschaft aufgeteilt in das flämischsprachige Flandern und die französischsprachige Wallonie – dazu gibt es noch Brüssel mit eigenem Status und mehrere so genannte Kommunitäten.
Zwar gibt es das Strafrecht als nationales Recht, für Arbeit und Beschäftigung sind aber viele regionale Institutionen zuständig. Dies alles macht die alltägliche Kooperation schwierig: z.B. müssen betroffene Strafgefangene bei einer Verlegung in andere Regionen immer wieder neu anfangen, da die Regelungen dort vollkommen anders sind.
In den letzten Jahren wurden wichtige gesetzliche Grundlagen für die Situation der Gefangenen beschlossen, so dass sich deutliche Verbesserungen ergeben haben. Christian Panier macht auf die Spannung zwischen den als Ideal formulierten Gesetzen und der schwierigen Umsetzung in der Praxis aufmerksam. Trotz der neuen Gesetze gibt es immer noch viele Gefangene, die entlassen werden, ohne dass sie eine Qualifizierung bzw. eine Beschäftigung erhalten haben.
In der Justizverwaltung und der Fach-Öffentlichkeit sieht er nur ein geringes Interesse, sich mit Arbeit und Ausbildung für Straffällige auseinanderzusetzen. Alle guten Projekte werden von freien sozialen Vereinen angestoßen und umgesetzt, die aber oft keine offizielle staatliche Anerkennung erhalten und von Freiwilligen getragen werden.

Norbert Kuruc berichtet aus der Slowakei wie Arbeit und Beschäftigung für Straffällige dort organisiert werden. Er ist Direktor einer JVA in Nitra (ca. 80 km östlich von Bratislava) mit 400 Haftplätzen, davon etwa 80 Strafgefangene und dem verbleibenden Teil an U-Häftlingen.
Es gibt in der Slowakei 18 JVA mit 10.348 Haftplätzen. Die Haftquote liegt bei 152 Inhaftierten auf 100.000 Einwohner. Die Beschäftigungsquote liegt bei etwa 56 % – wobei Gefangene in therapeutischen Maßnahmen nicht einbezogen werden.
In Zeiten der Planwirtschaft war die Aufgabe der Beschäftigung von Strafgefangenen eine Aufgabe der Staatsbetriebe. Nach der Wende mussten die Strafanstalten diesen Auftrag selber organisieren und hier eine ganz neue Kompetenz gewinnen. Eine wesentliche Form der Beschäftigung von Inhaftierten sind Werkstätten für die regionale Wirtschaft innerhalb der Justizvollzugsanstalten. Einerseits werden hier Aufträge von Firmen aus der Umgebung angenommen und eine entsprechende Produktion übernommen. Andererseits stellen diese Werkstätten durch ihre Arbeit auch die Versorgung staatlicher Einrichtungen mit z.B. Möbeln und Dienstkleidung sicher.
In Zukunft bleibt der Staat als Abnehmer für Produkte aus der Gefangenenarbeit wichtig, um Arbeit für die Inhaftierten sicherstellen zu können.

Verschiedene Formen der Beschäftigungsangebote in Frankreich wurden von Philippe Pottier präsentiert.
Es gibt die Zusammenarbeit mit freien Unternehmen per Konzessionsvertrag, staatliche Arbeitsbetriebe für Gefangenenarbeit, die vor allem Ausstattung für staatliche Einrichtungen herstellen (Möbel, Dienstkleidung, usw.), den allgemeinen Dienst in der JVA – Hausarbeit, Küche, Reinigung, usw. – sowie die berufliche Ausbildung, die zum Teil durch staatliche wie auch durch freie Träger gewährleistet wird. Seit 1987 gibt es keine Arbeitspflicht mehr: der Mangel an Arbeit im Gefängnis wie auch der Wunsch, Zwangsarbeit zu vermeiden, waren die Gründe für diese Neu-Regelung. Jeder Strafgefangene darf selber entscheiden, ob er arbeiten will – diese Freiheit wird ihm so wie auch jedem freien Bürger – zugestanden wird. Trotzdem ist der Strafvollzug dazu verpflichtet, alles dafür zu tun, dass Arbeitswillige eine Beschäftigung erhalten.
Seit 1987 hat sich Frankreich zum Ziel gesetzt, die Beschäftigungsquote deutlich zu erhöhen, auch wenn angesichts der Wirtschaftskrise bereits der Erhalt von den bisher bestehenden Arbeitsplätzen als Erfolg angesehen werden muss. Bereits Kleinigkeiten der alltäglichen Organisation sind dabei wichtig, z.B. eine praktikable Lösung, wie Firmenfahrzeuge in die JVA Einfahrt erhalten, so dass nicht zu viel Zeit bei der Kontrolle verloren geht.
Im gerade diskutierten, neuen Strafvollzugsgesetz gibt es wichtige weitere Entwicklungen für Arbeit und Beschäftigung von Inhaftierten: die berufliche Ausbildung soll dezentralisiert werden und die Sozial-Wirtschaft mit Betrieben für sozial Benachteiligte soll weiter ausgebaut werden. Es bedarf gleichzeitig einer Basis für Mindestrechte der Gefangenen und die nötige Flexibilität um die notwendigen und pragmatischen Planungen für Arbeit und Beschäftigung von Gefangenen sinnvoll weiter zu betreiben. 

Da Deutschland föderal aufgebaut ist, liegt die Verantwortung für den Strafvollzug bei den einzelnen Bundesländern. Gabi Grote-Kux präsentierte deshalb vor allem Erfahrungen aus dem Land Berlin (das der Stadt Berlin entspricht) mit seinen 8 JVAs und insgesamt 5200 Inhaftierten. Wichtig war ihr dabei, Bildung umfassend zu verstehen: es ist mehr als nur Arbeit und Beschäftigung. Wichtigster Bereich sind Projekte, die aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) gefördert werden und auch der internationale Austausch ist ein wesentlicher Aspekt. Bei der Projektentwicklung wurde dabei auch besonderer Wert auf die Beteiligung der Vollzugsmitarbeiter/innen gelegt, was auch die Aufgaben dieser Mitarbeiter/innen z.T. stark verändert hat.
In den Jahren von 2001 – 2007 wurden insgesamt sieben Projekte mit Beteiligung von 795 Inhaftierten umgesetzt. Der Einbezug von externen Trägern führt zu neuen innovativen Konzeptionen – wichtig sind flexible Lösungen, die den Inhaftierten gerecht werden und auch Mehrfach-Benachteiligte in den Blick nehmen. Geplant ist die engere Kooperation von Vollzug und Trägern bei der Haftentlassung mit der Planung der sozialen und beruflichen Integration, die eigentlich schon am ersten Tag der Haft beginnen muss.
Die weitere Entwicklung wird aber abhängig sein von den politischen und finanziellen Rahmenbedingungen: je schlechter die Konjunktur läuft, desto schwieriger ist es für Straffällige eine die Existenz sichernde Arbeit zu finden. Umso wichtiger ist die enge Kooperation aller zuständigen Stellen und Ämter, um straffällige Menschen vor sozialer Ausgrenzung zu bewahren.

Das Europäische Forum für angewandte Kriminalpolitik e.V. dankt der Generaldirektion des Justizvollzugsdienstes der Tschechischen Republik als Kooperationspartner ganz herzlich für die hervorragende Unterstützung dieser Veranstaltung!