2004 – Sorge um die Seele

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In der Spannung zwischen Delikt, Schuld, Menschenwürde und Sicherheit

Tagungszusammenfassungen von:
Claudia Andekerk
Sandra Müller
Anne-Marie Klopp + Wolfgang Krell

Keine Frage, unser Mitglied Dr. Jaroslav Hala, der die Idee und die glänzende Organisation zu dieser Tagung verantwortete, hatte in einen wunderschönen Ort eingeladen. Dies wurde allen 30 Tagungsteilnehmern nach den ersten Eindrücken von der Stadt schnell klar.

Aber wir waren ja – zumindest überwiegend – zum Arbeiten gekommen.
Nach einem gemeinsamen Kennenlernabend begann die Tagung am Freitagmorgen an würdiger Stätte. Nach der offiziellen Eröffnung durch die Vorsitzende Anne-Marie Klopp wurden wir durch den Bischof Msgr. Jiri Padour in seinem Amtssitz in Gegenwart des Generalvikars der Diözese Budweis, Jan Baxant, und des Dekans der Theologischen Fakultät, Dr. Jiri Kasny, begrüßt.

Es war sozusagen eine Premiere in dem ehrwürdigen Haus, so viele verschiedene Professionen zum Thema Kriminalpolitik in einem Raum versammelt zu haben. Die Tagung fand von Anfang an in einer entspannten und freundschaftlichen Atmosphäre statt.

Beitrag als PDF: Renöckl 2004

Der erste Referent war der Ethikprofessor Dr. Helmut Renöckl von der Südböhmischen Universität. Er beleuchtete in einem sehr beachtlichen Impulsreferat aktuelle ethische Fragen in Europa. In einer Analyse der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Situation – gekennzeichnet durch den europäischen Einigungsprozess und die Globalisierung – skizzierte er eindrucksvoll die Probleme unserer Gesellschaft in ihrer dramatischen Umbruchsituation. Er beschrieb die Notwendigkeit, auf der Basis uralter ethisch orientierter Grundfragen zu einem Paradigmenwechsel in den Lebensentwürfen und Gesellschaftskonzepten zu kommen. Nicht mehr der ungehinderte Fortschrittsgedanke, der unsere Neuzeit prägt, darf im Vordergrund stehen, sondern die Einsicht in die Notwendigkeit, den Wert von Begrenzung zu erkennen. In seinen vorsichtigen Hinweisen für eine nachneuzeitliche Lebenskultur – säkular oder auch christliche begründet – plädierte der Referent – immerhin Vorsitzender der Kommission für Sozialethik in den mittel- und osteuropäischen Staaten – für eine Vorreiterrolle Europas bei der Suche nach gesellschaftlichen Lösungen in diesem Kontext. Dabei empfahl er, Bezug auf die europäische humanitäre Kulturgeschichte zu nehmen.

Nachmittags stand ein Besuch der Justizvollzugsanstalt in Budweis unter der Führung von Dr. Hala auf dem Programm.

Am nächsten Tag ging es mit der Vorstellung der Situationen in den verschiedenen europäischen Ländern weiter. Für die Vortragsreihe zum Thema „Sorge um die Seele“ konnte kein besserer Ort gewählt werden: sie fand in der Theologischen Fakultät der Universität Budweis statt.

Den Anfang machte der Seelsorger Jan Kerekrety aus Bratislava. In der Slowakei gibt es zurzeit ca. 9’500 Gefangene und ca. 5’000 Vollzugsmitarbeiter. Ein spezielles Problem sind ca. 700 Suizide jährlich, die einen Rückschluss auf defizitäre Zustände in den Anstalten zulassen. Es wurde deutlich, dass sich in den Gefängnissen in der Slowakei die Lage nach dem Wegfall des Eisernen Vorhanges leicht verbessert hat. Vor allem die seelsorgerische Betreuung durch ökumenisch orientierte Haupt- und Ehrenamtliche nahm zu. Es gibt keine bezahlten Mitarbeiter in der Gefangenenhilfe. Insgesamt sind über 300 Freiwillige tätig. Jan Kerekrety stellte die internationale Gefangenenhilfsorganisation „Prison Fellowship International“ vor. Sie umfasst zurzeit 105 Mitgliedsstaaten und zählt zu den anerkannten Non Government Organisationen. Ihr Ziel ist es, auf christlicher Basis weltweit für die Straffälligen- und Angehörigenhilfe einzutreten.

Die Situation in der Schweiz ist gekennzeichnet von starken kantonsspezifischen Regelungen des Vollzugs, so Martin Vinzenz, Theologe und Leiter der Strafvollzugsanstalt Saxerriet. Es gibt jedoch durch interkantonale Verträge Zusammenarbeitsformen in drei sog. Konkordaten. Die Gefängnispopulation in der Schweiz liegt bei ca. 5’000 Gefangenen, davon sind lediglich 310 weiblich. In den letzten Jahren nehmen alternative Vollzugsformen, wie z. B. das elektronische Monitoring (noch im Versuchsstadium durch 7 Kantone) zu. Dies gilt auch für alternative Sanktionen, wie z.B. ein vorhandenes Wiedergutmachungskonzept. Der Referent stellte die auf hohem Niveau vorhandenen Elemente der auf Wiedereingliederung abgestellten Gefangenensozialisation in der Schweiz vor. Im Vordergrund steht dabei die Förderung des Gefangenen vor dem Hintergrund des ethischen Grundgedankens „von der Strafe zur der Versöhnung“. Anhand mehrerer Beispiele wurde die praktische Umsetzung einschließlich ihrer messbaren Ergebnisse erläutert.

Aus Österreich ging der Hofrat Dr. Johann Hadrbolec, ehemaliger Leiter der Justizvollzugsanstalt Krems- Stein, zunächst auf aktuelle kriminalpolitische Initiativen ein. Sie beabsichtigen im Wesentlichen die Beschränkung der Untersuchungshaft, eine Ausweitung der bedingten Entlassungen, die z. Zt. bei 19% liegen, und eine Reform des Strafvollzuges.
Österreich hat einen Gefangenenstand von ca. 8’300, wovon ca. 40% Ausländer aus den östlichen Nachbarstaaten sind. Die Situation führt vor dem Hintergrund überfüllter Anstalten in der Tendenz zum kritischen Verwahrvollzug, der Handlungsbedarf erkennen lässt. Die Seelsorgearbeit im Gefängnis sieht der Referent in der Tradition der 2000 Jahre alten religiösen und kulturellen Wurzeln Europas. Sie ist gesetzlich in dem Strafvollzugsgesetz von 1969 als einziger Sonderdienst abgesichert. Noch älter ist die Konkordatsvereinbarung zwischen Österreich und dem Heiligen Stuhl von 1934, die den katholischen Geistlichen ungehinderten Zugang zu den Gefängnissen einräumt. Insgesamt arbeiten in Österreich 600 Haupt-, Neben- und Ehrenamtliche Seelsorger in der Straffälligenhilfe.

Isabelle Le Bourgeois aus Frankreich konnte krankheitsbedingt selbst nicht an der Tagung teilnehmen. Anne-Marie Klopp trug vor. Auch Frankreich leidet unter defizitären Rahmenbedingungen im Haftbereich. Nach Auffassung der Referentin würde selbst eine Behebung dieser Missstände nicht helfen, erfolgreichen Vollzug durchzuführen, wenn nicht die Würde des Gefangenen gewahrt wird. Die wesentlichen Probleme in der Haft sind die Langeweile, der Drogenhandel, die Armut und schlecht ausgebildete oder menschlich und psychologisch unzureichende Vollzugsbeamte. Trotz aller Probleme muss für alle gelten, dass die Verhinderung der Rückfälligkeit das Ziel ist. Dazu gab die Praktikerin einige Denkanstöße, wie eine notwendige Opferorientierung, eine gute Vorbereitung der Haftentlassung sowie die Förderung der Beziehungsfähigkeit des Gefangenen. Besondere Berücksichtigung muss dabei das familiäre Umfeld des Gefangenen finden. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess hat dabei die geistliche Präsenz in der Haft.

Nach einer Kurzvorstellung ihres Landes Belgien ging Marie-Christine ter Hark-d’Ursel, Gefängnisseelsorgerin aus Brüssel, auf die seelsorgerische Situation in den Haftanstalten ihres Landes ein. Neben den hauptamtlichen Seelsorgern stützt sich die Seelsorge auf eine große Zahl ermächtigter Laien, sie sind ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Vollzugs. Insbesondere setzte sie sich mit dem Wandel der Rolle des Seelsorgers in der Vollzugsgeschichte auseinander. Von der – religionsbedingten – Allzuständigkeit für Schuld und Sühne in früheren Zeiten hin zu einer völlig „entmachteten“ Position. Gutachter und Sozialarbeiter haben viele Funktionen übernommen. Sodann beschrieb sie die rechtliche Situation des Strafgefangenen und dringend erforderliche Reformbestrebungen zur Stärkung seiner Rechte. Speziell ging die Referentin auf die Affäre Dutroux ein, die ab 1995 die Justiz in Belgien ins Wanken gebracht und in kurzer Zeit wichtige Veränderungen ausgelöst hat. Besondere Defizite sieht sie in der Behandlung von Ausländern und psychisch Kranken. Im Ergebnis wünscht sie sich eine Wandlung von der „wiedergutmachenden“ zur „versöhnenden“ Justiz.

Alsdann ging Bohdan Pivonka, als Hauptkaplan zuständig für die professionelle Seelsorge in allen tschechischen Anstalten, auf die Situation in Tschechien ein. Die seelsorgerische Situation wird gekennzeichnet durch die geschichtlich bedingte Zurückhaltung der tschechischen Bevölkerung gegenüber der Kirche. Dies gilt besonders auch in den Justizvollzugsanstalten, da hier noch der Bestrafungsgedanke im Vordergrund steht. Insgesamt gibt es in Tschechien ca. 17’000 Gefangene mit steigender Tendenz. Gleichwohl hat sich eine feste ökumenische Zusammenarbeit in der Gefängnisseelsorge gebildet. Es gibt einen Bürgerverein, der insgesamt 10 Konfessionen umfasst und der mit dem tschechischen Staat einen Vertrag für die Gefängnisbetreuung geschlossen hat. Die Seelsorge – verstanden als Sorge um die Seele – ist die Domäne der Kirche auch in Tschechien. 28 Kapläne sind in 22 Gefängnissen tätig, ein Drittel der Anstalten sind seelsorgerisch unbesetzt. Sie werden von Ehrenamtlichen unterstützt. Die Rahmenbedingungen innerhalb der Anstalten werden von ihm als relativ gut beschrieben. Defizite sieht er vor allem bei der Wiedereingliederung nach der Haftentlassung. Den Begriff der Menschenwürde reflektierte der Referent im Sinne praktischer Ethik im Umgang mit den Gefangenen, das heißt Arbeit mit „Herz und Verstand“.

Zum Schluss eines anstrengenden Seminartages sprach die Sozialarbeiterin Ilse Beßler über die Sozialtherapie als besondere Form des Behandlungsvollzuges in Deutschland. Sie berichtete aus der Sozialtherapeutischen Anstalt in Gelsenkirchen, die als eine der wenigen besonderen Anstalten in Deutschland vorwiegend mit Sexualstraftätern arbeitet. Das Ziel dieser Anstalten ist primär der Schutz potentieller Opfer und weniger die Resozialisierung des Täters. In Nordrhein- Westfalen gibt es zurzeit 951 inhaftierte Sexualstraftäter, d.h. 7,8 % der Gefangenenpopulation. Der Kern des integrativen Behandlungskonzeptes besteht aus dem Leben in einer Wohngruppe – unterstützt durch ein Behandlungsteam, das in Einzel-, Gruppen- und Familiengesprächen mit den Gefangenen arbeitet. Die Ergebnisse im Sinne von Rückfallvermeidung sind offenkundig gut. Entscheidend ist jedoch die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses zu den Gefangenen. Flankiert wird das Konzept von ergänzenden Diensten wie Schuldnerberatung, Suchthilfe u. a. Die Rolle des Seelsorgers ist von besonderer Bedeutung, da er über die Schweigepflicht verfügt. Viele Straftäter erleben erstmals Würde und Respekt nach vielen Jahren der Demütigung in anderen Anstalten. Die aktuelle politische Diskussion über die nachträglich anzuordnende Sicherungsverwahrung erschwert die Arbeit mit dieser speziellen Klientel. Abschließend stellte die Referentin ihre religiöse Orientierung und das daraus vorhandene Menschenbild als Hilfe und große Unterstützung für ihre Arbeit vor.
Vortrag Beßler 2004 im PDF-Format.

In den Diskussionen und Pausengesprächen zeigte sich, dass alle Tagungsteilnehmer in der Deliktsaufarbeitung eine wesentliche Voraussetzung für eine gelungene Resozialisierung sehen. In der europäischen Betonung dieses Gedankens sollte eine Aufgabe für das Europäischen Forums für angewandte Kriminalpolitik liegen.

Dieser Tag fand seinen Abschluss durch einen Empfang bei dem Dekan der Theologischen Fakultät, Herrn Th. Dr. Jiří Kašný.In diesem Rahmen wurden insbesondere Dr. Jaroslav Hala und seine Assistentin für ihr Engagement geehrt.