2003 – Sozialkompetenz vs. Sicherheit

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Anspruch und Wirklichkeit der Strafvollzugspolitik am Beispiel der verschiedenen Ausbildungskonzepte und Arbeitsbedingungen für das Strafvollzugspersonal im europäischen Vergleich

Schweizerisches Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal


So viel vorweg: 
Mit dem Schweizerischen Ausbildungszentrum für das Strafvollzugspersonal (www.prison.ch) konnte Mitorganisator Dr. Benjamin Brägger hervorragende Seminarbedingungen bieten.

Anne-Marie Klopp, die Vorsitzende des Europäischen Forums für angewandte Kriminalpolitik e. V., begrüßte am Freitag die Tagungsteilnehmer und führte kurz in die Thematik ein.
Für einige war der Weg nach Freiburg in der Schweiz doch recht lang. So trafen leider nicht alle der knapp 40 TeilnehmerInnen an der Tagung rechtzeitig ein. Sie verpassten leider den Besuch des Zentralgefängnisses in dieser Stadt.

Zum gemeinsamen Nachtmahl (so heißt hier das Abendessen) waren dann alle da. 
Im Anschluss fand zu später Stunde noch die große Vorstellungsrunde statt. Sie machte deutlich, dass es dem Europäischen Forum wieder einmal gelungen war, Teilnehmer aus sechs Ländern und aus nahezu allen Instanzen sozialer Kontrolle anzusprechen und an den Seminartisch zu bekommen. Ob Studentinnen, Sozialpädagogen, Juristen, Psychologen, Sozialarbeiter, Polizeibeamte, Theologen und Kriminologen – sie alle wollten sich über die unterschiedlichen Strafvollzugsbedingungen in Europa informieren.

Den Auftakt am Samstagmorgen machte Dr. Gérard de Coninck, Belgien. Als Kriminologe, der sich seit langem mit den Bedingungen des Strafvollzuges in Europa beschäftigt, zeichnete er ein Bild des Vollzugsbeamten, der sich vom „Müllmann der Gesellschaft“ zum anerkannten „Mitarbeiter in der Strafrechtspflege“ im Rahmen eines gemeinsamen europäischen Straf- und Strafvollzugsrechts entwickeln sollte.

 

Nach diesem grundlegenden Referat gab es einen Überblick zu den Ausbildungssystemen und Arbeitsbedingungen aus folgenden Ländern:

Aus der Schweiz berichtete Dr. Benjamin Brägger, dass hier vieles anders sei als in den Nachbarstaaten. So zum Beispiel, dass die Haftplätze nur zu 69 % belegt sind – dies führt er auf die konsequente Anwendung alternativer Sanktionen zurück. Ebenfalls erstaunlich ist, dass es in der Schweiz kein einheitliches Vollzugsrecht gibt, sondern dieses Rechtsgebiet in den 26 Kantonen teils sehr unterschiedlich geregelt ist.  Die einheitliche Ausbildung des Strafvollzugspersonals im Schweizerischen Ausbildungszentrum ist da schon eine Ausnahme. Sie findet auf der Grundlage der europäischen Empfehlungen zum Umgang mit Strafgefangenen statt. So wird ein guter Standard in der einheitlichen Aus- und Fortbildung mit der Möglichkeit einer eidgenössischen Anerkennung auf Bundesebene erreicht.

Philippe Pottier, Anthropologe und Mitarbeiter der französischen Strafvollzugsschule, musste von weniger guten Rahmendaten berichten. Nach seinen aktuellen Zahlen sind die Haftplätze in Frankreich zu 124 % belegt. Die Situation in Frankreich ist gekennzeichnet durch eine erhebliche Zunahme der Belegungszahlen und einhergehend zusätzlichen Ausbildungsbedarf. So werden allein in diesem Jahr 1500 Vollzugsbeamte und 200 Sozialarbeiter eingestellt. Es gibt in Frankreich zwar offiziell nur „Personen, die unter die Obhut der Justiz genommen“ sind. An den realen Problemen durch Überbelegungen und einen hohen Ausländeranteil ändert dies wenig. 
Landesweit gut organisiert erscheint der Fachdienst für (Wieder)Eingliederung und Bewährung (SPIP). Er betreut insgesamt 60 000 „in Obhut genommene“ und 140 000 Entlassene.
Philippe Pottier setzte sich intensiv mit der Rolle des Vollzugsbeamten vor dem Hintergrund der Forderung nach Sicherheit und der wünschenswerten Erweiterung der Sozialkompetenz auseinander.

Die tschechische Situation wurde von Dr. Jaroslav Hala vorgestellt. Dieses Land hat zur Zeit 17 000 Strafgefangene und 11 000 Bedienstete im Vollzug. Der Referent stellte auf die humanistische Grundlage der Straffälligenarbeit nach Jan Amos Comenius ab. Dieser hat bereits vor 300 Jahren festgestellt, dass „das Einsperren von Menschen ohne begleitende Erziehung nicht zu einer Besserung führt“. Die Grundlage des tschechischen Strafvollzugs ist daher das „Prinzip des lebenslangen Lernens“, das sowohl für Strafgefangene als auch für das Strafvollzugspersonal gilt. Dr. Hala stellte ein 10-stufiges Ausbildungskonzept für die tschechischen Justizvollzugsbediensteten vor.

Um den Strafvollzug in Belgien darzustellen, fand der eingangs bereits vorgestellte Referent Dr. de Coninck den Einstieg mit einem aktuellen UN- Bericht, der dem belgischen Vollzugssystem eine Reihe von Mängeln attestiert. Die von ihm aufgezeigten Rahmenbedingungen hinsichtlich der vorhandenen Belegungszahlen, der Ausbildung des Personals und der sonstigen personellen und materiellen Ressourcen machten deutlich, dass es um den Stellenwert des Strafvollzugs in diesem Land im europäischen Vergleich eher schlecht bestellt ist. Die dargestellten kriminalpolitischen Entwicklungen lassen eine Besserung in absehbarer Zeit auch nicht erwarten.

Bernhard Wydra, Leiter der Bayerischen Justizvollzugsschule in Straubing, legte den Schwerpunkt seiner Ausführungen auf die Verhältnisse im Justizvollzug des Freistaates Bayern. Erstaunlich, dass in diesem Politikbereich das Land im Hinblick auf das Verhältnis von Haftplätzen zu Mitarbeitern im Vollzugsdienst bundesweit die „Rote Laterne“ hat. Vom Referenten wurden die Ausbildungs-voraussetzungen und – inhalte für die unterschiedlichen beamtenrechtlichen Laufbahnen des mittleren (allgemeiner Vollzugsdienst), gehobenen (Leitungsfunktionen im allgemeinen Vollzugsdienst, Sozialarbeiter und Lehrer) und höheren Dienstes (Juristen als Abteilungs- und Anstaltsleiter, Ärzte, Psychologen) dargestellt. Die Hauptprobleme des Vollzuges sind Überbelegung, ein hoher Ausländeranteil und ein permanenter Personalmangel. Speziell geschildert wurden die Probleme mit inhaftierten jungen Deutschrussen. Diese Probleme sind aber auch in den anderen Bundesländern festzustellen.

Ergänzend zu den Länderberichten gab es einen aktuellen Bericht von Gabriela Peter- Egger aus der Schweiz zu Erfahrungen mit der elektronischen Fußfessel. Dieses Projekt des „Electronic Monitoring“ (EM) wurde gerade abgeschlossen. Es lief über 3 Jahre in insgesamt 6 Kantonen der Schweiz. An dem Versuch nahmen insgesamt 630 überwiegend zu Kurzstrafen Verurteilte teil. Die Referentin stellte die per- sönlichen und technischen Voraussetzungen für die Teilnahme und die Erfahrungen vor. Insgesamt ist nach einer vorläufigen Auswertung das Projekt – auch unter Kostenaspekten – erfolgreich verlaufen. Die Kantone führen das EM auch nach Ablauf des Projektes weiter. Eine ge- setzliche Voraussetzung für die Sanktionsform ist in Vorbereitung.
Nähere Informationen dazu ab ca. November 2003 unter www.bj.admin.ch.

Am Spätnachmittag des Samstages wurden zwei Arbeitsgruppen gebildet, die sich mit dem Rollenverständnis des Strafvollzugspersonals und zukünftigen Ausbildungskonzepten im Strafvollzugbefassten.
Im intensiven intereuropäischen

Austausch wurden die Ergebnisse erarbeitet.

So ging ein langer und anstrengender Arbeitstag zu Ende. Aber der Aperitif und das Büffet am Abend führte wieder alle zu interessanten Gesprächen zusammen.


Am Sonntag
,
pünktlich um 09.00 Uhr, wurde die Tagung mit einem Vortrag von Herrn Perparim Rukaj, Düsseldorf, fortgesetzt.
Herr Rukaj ist Mitarbeiter im Allgemeinen Vollzugsdienst in der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Düsseldorf und dort als Ausländerbeauftragter tätig. Herr Rukaj stellte dar, dass diese Aufgabe in der JVA noch relativ neu ist und wie er zu Beginn seiner Tätigkeit vorgegangen ist.
Nach einer kurzen Darstellung der rechtlichen Grundlagen zu der Frage „Wer ist überhaupt ein Ausländer in einer deutschen JVA?“ folgten Erläuterungen der von ihm zu leistenden Arbeit.
Diese gliedert sich in einen internen und einen externen Bereich. Der interne Bereich wird dabei im Wesentlichen bestimmt durch die Zusammenarbeit mit dem Anstaltsbeirat sowie der Darstellung der Aufgaben gegenüber den Kollegen.
Die Zusammenarbeit mit dem Ausländeramt, dem Arbeitsamt, den verschiedensten Konsulaten sowie öffentlichen und freien Trägern der Ausländerarbeit bilden den externen Teil seiner Arbeit. Insbesondere ist hier die Funktion als Ansprechpartner für die Ausländerbehörde zu nennen.
In der direkten Begegnung mit den ausländischen Gefangenen übernimmt Herr Rukaj die wichtige Aufgabe der Information der Inhaftierten. Dabei geht es beispielsweise um die Darstellung der Besuchsmöglichkeiten und vieler anderer administrativer Dinge. Einen breiten Raum nimmt die Suchtbetreuung ein, die allerdings nicht generell angeboten wird, sondern in Abhängigkeit von Aufenthaltsstatus und dem Vorhandensein eines Kostenträgers umgesetzt wird.
Die Vernetzung verschiedenster Organisationen und Behörden in der Stadt Düsseldorf mit dem Ziel der Gründung einer Arbeitsgemeinschaft bildet z. Z. einen weiteren wichtigen Schwerpunkt der Arbeit des Herrn Rukaj. Es werden damit drei Hauptziele verfolgt:
– Kriminalprävention während der Haft
– Verbesserung der Betreuung und Behandlung während der Haft
– Resozialisierung.
Abschließend stellte Herr Rukaj dar, dass er 70% seiner Arbeitszeit für seine Tätigkeit aufwenden kann, während üblicherweise in anderen Gefängnissen lediglich 20% für die Mitarbeiter zur Verfügung stehen.

In einer intensiven Schlussrunde mit erstaunlich vielen Teilnehmern wurden die Inhalte des Seminars insgesamt als hochinteressant bewertet. Gerade der Blick über den eigenen Bereich hinaus und in die Situation in anderen Ländern hinein war für die meisten Teilnehmer sehr wichtig. Methodisch wurde angeregt, noch mehr Raum für Diskussionen im Anschluss an die Referate zu geben. So blieben einige Fragen ungefragt. Vielleicht erreichen sie über die erstellte email- Liste dennoch den Referenten.
Hervorgehoben wurde wieder einmal die gute Tagungsatmosphäre, die Bereitschaft, einander zuzuhören und anzunehmen. Dazu hat sicherlich auch die europaweite und interdisziplinäre Zusammensetzung der TeilnehmerInnen beigetragen. Anne- Marie Klopp und Benjamin Brägger haben geholfen, die sprachlichen Probleme weitgehend aufzuheben.
Allen hat die Tagung Mut gemacht, mit den Problemen im eigenen Land umzugehen.

Alle Vorträge dieser Tagung sind in einer Tagungsdokumentation erschienen, welche über das Europäische Forum für Kriminalprävention zum Unkostenbeitrag von € 15.- inkl. Versand (ISBN 3-933837-18-9) bezogen werden kann.

Der Tagungsbeitrag von Philippe Pottier ist in französicher Sprache  unter folgendem Link abrufbar:
Pottier 2003